Von der Programmierung zur Artikulation

Sprechapraxie bei Kindern und Erwachsenen

Bericht von Yvonne Weber

Am 21. November lud der vpl in Potsdam/Griebnitzsee zum 3. Herbsttreffen Patholinguisik ein. Die noch junge Tagungsreihe hat sich mittlerweile etabliert und überzeugte durch ein den Wünschen der Teilnehmer entsprechenden Programm und guter Organisation.

Die Hauptvorträge deckten das hoch praxisrelevante Gebiet der Sprechapraxie und der Verbalen Entwicklungsdyspraxie (VED) ab. Ingrid Aichert und Anja Staiger vom EKN München referierten über theoretische und therapeutische Aspekte der Sprechapraxie: z.B. fanden sie einen Interaktionseffekt zwischen Silbenfrequenz und Silbenstruktur, der für die Therapie impliziert, dass Konsonantenverbindungen zunächst in hochfrequenten Silben geübt werden sollten, da diese hochgradig motorisch überlernt sind. In Lernstudien konnten sie zeigen, dass Üben mit Silben effektiver ist als das Üben von Segmenten. Weiterhin konnten die Referentinnen den Einfluss von Wort- und Satzakzent auf die Leistung der Patienten mit Sprechapraxie bestätigen: Trochäen sind leichter als Jamben und betonte Wörter im Satz sind weniger fehlerträchtig als unbetonte.
Anne Schulte-Mäter vom Kinderzentrum München stellte das Störungsbild der VED und ihren Therapieansatz VEDiT vor: Das Problem der betroffenen Kinder ist die Planung der Sprechbewegungen und deren Programmierung. Im Unterschied zur Sprechapraxie als erworbene Störung ist bei VED bereits die Entwicklung der Planungsmuster gestört, so dass sich das Kind in seinen Lautäußerungen nicht entfalten kann und viele Laute fehlen. Die Kinder fallen durch extrem geringe Sprachproduktion bei altersgerechtem Sprachverständnis auf und durch minimale Fortschritte bei oft jahrelangen therapeutischen Bemühungen. Als Säuglinge lallen sie kaum, zeigen Vokalsprache und verwenden kaum Konsonanten. Später zeigen sie Suchbewegungen, stilles Positionieren der Artikulatoren, die Fehler sind inkonstant und inkonsequent. Frau Schulte-Mäter reagiert auf VED mit einem Therapieprogramm aus vier Schritten: 1. multisensorielle Assoziation (Phonem mit Mundbild, Hand- und Schriftzeichen und taktil-kinästhetischen Reizen verknüpfen), 2. Erarbeitung der Artikulatorischen Programme, 3. durch Vereinfachung schrittweise Zielwörter lernen, 4. Erarbeitung eines Grundwortschatzes. Über die Ätiologie der VED herrscht noch keine Sicherheit, es sind jedoch häufig leichte neurologische Auffälligkeiten, genetische Disposition oder stoffwechelsbedingte Ursachen zu beobachten. Die Referentin gab die vorsichtige Prognose hab, dass bei altersgerechter Kognition ein fehlerfreies Sprechen möglich ist, wobei Restsymptome wie undeutliches oder verlangsamtes Sprechen auftreten können. Wenn kognitive Einschränkungen und VED zusammen auftreten, ist es oft nicht möglich, Fehlerfreiheit zu erreichen.
Ulrike Becker-Redding vom Uniklinikum Essen stellte ihren alternativen Therapieansatz KoArt für VED vor. Dabei handelt es sich um einen drillorientierten Ansatz, bei dem die fehlenden sprechmotorischen Kompetenzen durch Üben automatisiert werden sollen. Es gibt ebenfalls multisensorielle Hilfestellungen und einen stufenweise Aufbau der Therapie. Die Zusammenstellung des Materials orientiert sich an artikulatorischen Eigenschaften der Laute, wobei auf maximale Kontraste geachtet wird (z.B. m, k, f). Wenn die Konsonanten in verschiedenen Abfolgen gesprochen werden können, kommen auch Vokale hinzu. Diese werden so ausgewählt, dass die drei Eigenschaften Öffung, Rundung und Spreizung bei der Artikulation abgedeckt werden. Sobald aus den Übungssegmenten Wörter gebildet werden können, werden auch diese geübt. An der regen Diskussion nach den beiden Vorträgen wurde deutlich, wie groß das Interesse an mehr Informationen zu VED ist!

Im Spektrum Patholinguistik wurden folgende Kurzvorträge präsentiert: Claudia Peschke zeigte durch ein Shadowing-Experiment, dass der auditive Input die Sprechmotorik beeinflusst, da die Probanden auch die Sprechweise und nicht nur die Wörter des Sprechers widergaben. Judith Heide berichtete über semantische Transparenz von mit ver- präfigierten Verben und dass volltransparente Verben im Lexikalischen Entscheiden schneller und korrekter als Wörter des Deutschen erkannt werden als semi- oder nichttransparente. Susan Ott zeigte, dass SES-Kinder neologistische Verben häufiger korrekt /t/-flektieren können, wenn viele monomorphematische Wörter mit gleichem Silbenendrand im Lexikon vertreten sind (/valt/, /alt/, /balt/), als wenn keine Reimwortvertreter vorliegen - wie für die meisten Langvokalstrukturen. Danach besteht ein positiver Einfluss der Frequenz von Subsilben auf die Verbflexion im gestörten Spracherwerb. Auf die ungestörte Sprachentwicklung hatte sie hingegen keinen Einfluss. Als letzte stellte Heike Herrmann ihre Studie zum Nachsprechen von grammatischen und ungrammatischen W-Fragen vor: Sie konnte zeigen, dass korrekte W-Fragen häufiger korrekt nachgesprochen wurden als ungrammatische und dass SES Kinder kein abweichendes Muster zeigen, sondern sich im Alter von 5;9 verhalten wie sprachgesunde 3jährige Kinder.

Das 3. Herbsttreffen Patholinguistik war eine sehr gelungene Tagung, die erneut Studierende, wissenschaftlich und therapeutisch tätige Patholinguisten und verwandte Berufsgruppen zusammengebracht und zu einem wertvollen Austausch geführt hat!